Nairy Baghramian  voluptuous panic

27/03/2004 – 08/05/2004

Press Release

"Voluptuous Panic / Lüsterne Panik"

Eine ganze Zeit lang suchte Nairy Baghramian nach einer Idee für eine Skulptur- eine Vitrine, die alle Beschränkungen der Funktion abgelegt hat, ihren Kopfteil und Seiten geschlossen hält und ihre Dimensionen in einer mutwillig egozentrischen Weise bis zum Punkt verzerrt, an dem sie unstabil und entnervt wirkt. Die erste Skulptur dieser Art, die sie als Objekt VP 2004 realisiert hat, hockt auf einem Stativ aus langen, dünnen, heißen, pinken Porzellanbeinen. Sie ähneln gekreuzten Speeren oder übertrieben langen Pfennigabsätzen und suggerieren somit möglicherweise Weiblichkeit ohne das tatsächliche Geschlecht zwingend vorzuschreiben. In Augenhöhe verdeckt der Körper aus einer Papier- und Blechhülle das Innenleben. Die Vitrine könnte der Aufbewahrungsort eines Geheimnisses sein, das niemals gelüftet werden wird. Diese Qualität lässt sie so einladend erscheinen wie das versperrte Tagebuch eines Fremden, das in bequemer Reichweite liegt. Die Skulptur wird zwar öffentlich gezeigt, verweigert ihr Inneres jedoch dem prüfenden Blick des Betrachters, was einen an die bizarren Formen und Inhalte der versiegelten Kammern in unserem eigenen Inneren denken läßt.
Die Skulptur könnte als verdeckter Container, der mit keinem anderen Zweck ausgestattet ist, als die eigene Nachhaltigkeit und den Status als Skulptur zu hinterfragen, sowie durch ihre insektenartige Science-Fiction-Präsenz, der unwahrscheinlichen oder ehrfurchtslosen Verschmelzung des Werks von Louise Bourgeois und Donald Judd entsprungen sein. Der tatsächliche formale Präzedenzfall jedoch findet sich im Oeuvre des wunderbaren italienischen Architekten und Designers Carlo Mollini (1905-1973) wieder, der durch seine bildhauerischen, anthropomorphen Möbel bekannt wurde. Seine Glasvitrinen, Teil des vom Surrealismus beeinflussten Interieurs aus der Casa Miller (1938) und Casa Devalle Turin (1939), sind Aufbewahrungsorte für zerbrechliche Schmuckstücke mit sinnlicher Bedeutung.

Der Ausstellungstitel „Voluptuous Panic“ / Lüsterne Panik wäre eine gute Beschreibung für die unvergesslichen Ausbrüche der Anti-Diven Gena Rowlands in John Cassavete`s Faces (1968) oder Divine in John Water’s Female Troubles (1975), während das ausgekühlte, abgeschnittene Bein auf der Einladungskarte einer erschöpften Club-Besucherin gehören könnte, die seit kurzem in Berlin lebt und auf Elektro-Punk abfährt. Was Einladungskarte und Ausstellungstitel jedoch vorsätzlich unterlassen, ist uns auf die reduzierte und konzentrierte Kühle vorzubereiten, mit der die Künstlerin sich den Galerieraum zu eigen gemacht hat. Die Mühsal dieser irgendwie hochtrabenden Protagonisten hat etwas mit dem Zusammenbruch von Intimität zu tun, der aus sozialen Bedingungen resultiert.

Auf die gleiche Weise inszeniert die Künstlerin eine Bühne, auf der Kunstobjekte und deren Betrachter (Subjekte) in einer streng vorgegebenen Beziehung gehalten werden, die ihre gegenseitige Abhängigkeit betont und gleichzeitig deren Anspannung, hohe Dramatik und Grenzen aufzeigt. Zum Teil bezieht die Ausstellung den Kampf mit ein zwischen dem Wunsch nach Intimität und Nähe, dem durch beide hart gewonnenen „Wissen“ („knowing“), und der schneidenden Abstoßung und Verneinung, die ausgedrückt wird durch materielle (sprich geistige) Barrieren, durch Zurücksetzung, Unnahbarkeit, Entfernung und – durch das Schwierigste von allem ob für mit Haut bedeckte Wesen oder für skulpturale Sachen- durch das unberührbar gemacht worden Sein. Hinter einer frisch hochgezogenen Wand und nachts versteckt durch die Schiebetüre der Galerie verdeutlichen dies drei skulpturale Fotoarbeiten Untitled (2004). Sie zeigen je eine weiße Porzellan-Hand nach dem Design von Gio Ponti (1891-1979) – ein gruseliges und enigmatisches Ding, vermutlich vorgesehen als Aufbewahrungsort auf dem Boudoir, an dem ermattete Socialites nach langer Nacht außer Haus ihren Fingerschmuck, ihre Handschuhe und sonstigen Handgelenks-Trophäen ablegen. Diese Hände sind wahrlich kalt, obgleich glatt, elegant und geradlinig. Die Künstlerin hat den Händen Symbole beigefügt, die okkulte oder andere mysteriöse, nicht frei zugängliche Kenntnisse suggerieren, über die Handleser, Astrologen und jene verfügen, die komplizierte metaphorische Knoten knüpfen können.

Dominic Eichler

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For a while now Nairy Baghramian has been thinking about an idea for a sculpture – a vitrine that has cast off the restraints of function, closed off its top and sides, and stretched its dimensions in a wilful egocentric way to the point where it looks unstable and edgy. The first of its kind that she has realized as an object VP (2004) is perched on a tripod of long thin hot pink porcelain legs. They resemble crossed javelins or exaggeratedly long stiletto heels and perhaps suggest femininity without necessarily prescribing gender. At eye level the body of the sculpture’s paper and tin cladding obscures its contents and internal workings. The vitrine could be the repository of a secret that will never be divulged, a quality that makes it as attractive as a stranger’s locked dairy left in easy reach. The sculpture is on display while refusing to proffer an interior for public scrutiny and could make you to think about the bizarre shape and content of your own sealed inner chambers. At once a blind container with no purpose other than to question its own sustainability and status as a sculpture, and an immobile sci-fi insect-like presence, it might have sprung from the unlikely or irreverent fusion of the work of Louise Bourgeois and Donald Judd. The actual formal precedent however, can be found in the oeuvre of formidable Italian architect and designer Carlo Mollino (1905-1973) who is best known for his sculptural anthropomorphic furniture. The Modern domestic glass vitrines in his surrealist influenced interiors Casa Miller (1938) and Casa Devalle Turin (1939) are places for breakable trinkets with sensual import.

The exhibition title ‘voluptuous panic’ would be a good description of the memorable outbursts of anti-divas like Gena Rowlands in John Cassavete’s Faces (1968) or Divine in John Water’s Female Trouble (1975), while the chilled truncated leg on the invitation card might belong to a clubbed out newly Berlin based electro-clashette. But what the title and the invitation card intentionally don’t do is prepare us for the pared down concentrated cool that confronts us in the gallery space the artist has made her own. The plight of these kind of grandiose protagonists has something to do with the collapse of intimacy resulting from social conditions. Similarly in this exhibition the artist stages a scene in which art objects and their viewers (subjects) at held in a tight predetermined orbit that emphasises their interdependence while showing its tension, high drama and limits. In part the exhibition involves pitting the desire for intimacy, closeness, and the precise hard won ‘knowing’ that they bring against a sharp rejection and negation expressed through material (read mental) barriers, remove, aloofness, distance and most difficult of all – whether were talking about skin covered persons or sculptural things – being rendered untouchable. Behind a new wall and sealed off at night by a sliding door which is a part of the gallery’s pre-existing architecture, three sculptural photographic works Untitled (2004) make this explicit. They each show a white porcelain hand designed by Gio Ponti (1891-1979) - a creepy enigmatic thing was probably intended as the boudoir repository for the finger jewels, gloves or wrist trophies of fatigued socialites after their long evening out. They are truly cold hands albeit smooth, elegant and upright. The artist has added symbols to the hands that suggest occult or other mysterious inaccessible knowledge of the kind possessed by palm readers, astrologers and those who can tie complicated metaphorical knots.

Dominic Eichler