Jörg Schlick  Projektion & Schizophrenie

28/09/2003 – 08/11/2003

Press Release

Jörg Schlicks Hunderte von Tuschezeichnungen, die jetzt in der Galerie Nagel in Berlin zu sehen sind, führten einen, und das war mein erster Ein­druck, recht direkt zu Koordinaten psychologischer Deutung, wie sie für Lügendetektoren und grafolo­gische Tests entwickelt wurden. (...) In den Zeichnungen Jörg Schlicks konkurrie­ren Auslöser für psychologische Deutungen: Will­kür gegen Unwillkürliches, Konfabulation gegen Authentizität, exakt wissenschaftliches Verfahren gegen individuelle oder private Exegese. Allen diesen Zeichnungen, die Haupt- und Nebenraum der Galerie anfüllten, ist eine gemeinsame, kon­trollierte zeichnerische Füllbewegung in einem kreisrunden Bildfeld zu Eigen, das wiederum einem weißen, quadratischen Kartonformat eingeschrie­ben ist. Mit den meisten, mit denen ich über diese Ausstellung gesprochen habe, teilte ich eine be­stimmte regressive Assoziation: Der „Spirograf' der Kindheit, jenes Zeichenspielzeug mit exzen­trisch rotierenden und so verblüffende Muster erzeugenden Schablonen, die wie ein Zahnrad in einem kreisrunden Rahmen bewegt werden mussten. Eine positive Erinnerung, weil es Spaß machte, sich ohne jedes Können „selbst" als Urheber eines sehr komplexen, an Atommodelle und Vorhangmuster der Elterngeneration gemah­nenden Musters zu erleben.

Schon auf einer ganz oberflächlichen Bene aber sind Jörg Schlicks Zeichnungen viel erstaun­licher. Denn in ihnen hat er in großer Nähe zum maschinell Regelmäßigen, aber eben doch erkenn­bar „von Hand" über den Zeitraum eines Jahres hinweg eine frei aus dem Handgelenk kreisende Zeichentechnik praktiziert, die nicht nur nicht der Hilfe irgendeines Rahmens bedarf, sondern die über die in ihr alludierten Assoziationsfelder außer­dem, bei aller Reduziertheit der Mittel, noch ein Maximum an - tja - ,.Ausdruck" zulässt. Die Vari­anz der Zeichnungen untereinander - angeblich folgen sie keiner konzeptuellen „Drawing-a-day"-Regel - wurde vor allem in den großen Blockras­tern, die in der Galerie aus den zwei festgelegten Formaten gehängt waren, erkennbar. Jörg Schlick legt in den Zeichnungen nicht nur überraschend gleichmäßige Liniengewebe über­einander, so dass unterschiedliche Helligkeiten entstehen, in vielen von ihnen verlässt er auch die Gleichmäßigkeit und betont bestimmte Partien durch eine Verstärkung oder Wiederholung im Duktus, der wirkt, als potenziere er auch minimale nervöse Erschütterungen und interpretiere sie so schon im Vollzug des Zeichnens. Die feinmaschi­gen schwarzen Linienschichten verkeilen sich aber nie zu dem stickigen Gewölle, auf das sie in extremis hinauszulaufen scheinen. Es sind feinglied­rige Formen entstanden, die wirklich alles Mög­liche erkennen lassen. Sie laden zwar regelrecht dazu ein, sie als biomorphe Ornamente, als orga­nische Gestalten ohne innere Symmetrie oder Zentrierung festzudeuten - aber sie behalten ihren Eigensinn.

Auszug aus: Krümmel, Clemens: "Verwandte des Lebens: Jörg Schlicks Zeichnungen in der Galerie Christian Nagel, Berlin" In: Texte Zur Kunst 52, Dezember 2003, S. 172-175