Leon Kahane  gedenken unserer durch die Tat!

01/07/2022 – 27/08/2022

Galerie Nagel Draxler
Weydingerstr. 2/4
10178 Berlin

Opening / Eröffnung:
Donnerstag, 30. Juni 2022, 18 – 21 Uhr
Thursday, June 30, 2022, 6 – 9pm

Öffnungszeiten / Opening hours:
Dienstag - Freitag 11 – 18 Uhr, Samstag 12 – 18 Uhr
Tuesday - Friday 11am – 6pm, Saturday 12 – 6pm

Press Release

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Im Jahr 2014 bekam mein Vater eine Mail vom Deutschen Historischen Museum. Akten der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher sind im Archiv des DHM aufgetaucht. Sie stammen aus dem Nachlass meines Großvaters und sollten nun 2015 in der Ausstellung “1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang.” gezeigt werden. Mein Großvater Max Kahane begleitete als Berichterstatter der sowjetischen Presse gemeinsam mit meiner Großmutter Doris Kahane den Prozess. Die gesammelten Prozessakten setzen sich aus den Transkriptionen der einzelnen Prozesstage und detaillierten Dokumenten mit Hintergrundinformationen zu den einzelnen Anklagepunkten zusammen. Mein Großvater übergab 1956 seinen kompletten Aktensatz an das DHM, das damals noch Museum für Deutsche Geschichte hieß. Wir wussten nicht von dem Verbleib der Akten.

Während der Presseführung durch die Ausstellung des DHM zeichnete ich ein Video aus der Point of View Perspektive mit einer GoPro Actioncam auf. Mich interessierten die Rezeption und Interpretation der Geschichte zu der meine Großeltern nicht nur dazugehörten, sondern die sie selbst stark geprägt haben. Meine Großeltern, die als Juden den Holocaust überlebten, waren vor Pogrom und Vergasung geflohen, wehrten sich aber und kämpften im Widerstand. Beide überlebten französische Deportationslager. Sie lernten sich während der Befreiung von Paris kennen. Nach Krieg und Vernichtung kehrten sie nach Deutschland, in den sogenannten antifaschistischen Staat, zurück.

Seitdem habe ich mich immer wieder damit auseinandergesetzt auf welche Art und Weise sich die DDR über solche Biografien selbst definiert und repräsentiert hat. Es waren nur wenige Menschen in der DDR, die tatsächlich eine Widerstands- oder Opfergeschichte hatten. Für die generelle Selbstentlastung und Selbstbehauptung der DDR wurden diese Biografien benutzt. Das ideologische Vermächtnis der DDR ist inzwischen sowohl in den tagespolitischen als auch in den kulturellen Debatten der Gegenwart angekommen. Dabei fällt mir immer wieder auf, dass die Selbstbezeichnungen der DDR als sozialistisch, solidarisch und antifaschistisch besonders attraktiv für die deutsche Suche nach Identität ist. Gerade die DDR macht dabei deutlich, dass Utopie und Realität nur sehr wenig miteinander zu tun hatten. Auch das zeigt sich in der identitätsstiftenden Projektion auf den Osten.

Sieben Jahre nach der Ausstellung im DHM habe ich noch einmal die Akten gesichtet und mir fiel auf, dass mein Großvater ein Index für die Akten angefertigte. Er hat sie sortiert und nummeriert. Die Nummern schrieb er auf die Rückseiten politischer Plakate aus der noch jungen DDR. Er hatte sie zu Deckblättern in A4 große Teile gerissen. Die Plakate sind der ästhetische Ausdruck des politischen und kulturellen Selbstverständnisses, welches die Selbstbehauptung als antifaschistischen Staat legitimieren sollte. Eine ernsthafte Aufarbeitung blieb auf der Basis dieser Selbstbeschreibung und Selbstentlastung von der eigenen NS-Vergangenheit aus. Jetzt haben die Plakate, die einst politische Botschaft waren und dann zu Deckblättern der Nürnberger Prozessakten wurden, eine neue Form bekommen. Sie sind nun Bilder einer Geschichte, die zwar im Namen des tatsächlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus erzählt wurde, aber nicht ausreichend von den Menschen, die wirklich im Widerstand waren.

Die Instrumentalisierung einer nicht aufgearbeiteten, sondern idealisierten Geschichtsschreibung hat konkrete Auswirkungen auf die Gegenwart und die Zukunft, wie wir am Beispiel der Ukraine sehen können.

Text: Leon Kahane

 

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In 2014, my father received an email from the German Historical Museum (DHM). Files of the Nuremberg trials against the main war criminals had turned up in the DHM archives. They came from my grandfather's estate and were now to be shown in 2015 in the exhibition "1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang”. My grandfather Max Kahane accompanied the trial as a reporter for the Soviet press together with my grandmother Doris Kahane. The collected trial files consist of transcriptions of the individual trial days and detailed documents with background information on the individual charges. My grandfather gave his complete set of files to the DHM, which was then called the Museum of German History, in 1956. We did not know about the whereabouts of the files.

During the press tour of the DHM exhibition, I recorded a video from the point of view perspective with a GoPro action cam. I was interested in the reception and interpretation of the history to which my grandparents not only belonged, but which they themselves strongly influenced. My grandparents, who survived the Holocaust as Jews, had fled the pogrom and the gas chambers and fought in the resistance. Both survived French deportation camps. They met during the Liberation of Paris. After war and extermination, they returned to Germany, to the so-called anti-fascist state.

Since then, I have repeatedly dealt with the way in which the GDR defined and represented itself through such biographies. There were only a few people in the GDR who actually had a history of resistance or sacrifice. For the GDR's general self-exculpation and self-assertion, these biographies were instrumentalized. In the meantime, the ideological legacy of the GDR has arrived in both the daily political and cultural debates of the present. In this context, I am always struck by the fact that the GDR's self-descriptions as socialist, solidary, and anti-fascist are particularly attractive for the German search for identity. The GDR in particular makes it clear that utopia and reality had very little to do with each other. This is also evident in the identity-forming projection onto the East.

Seven years after the exhibition at the DHM, I looked through the files again and I noticed that my grandfather made an index for the files. He sorted and numbered them. He wrote the numbers on the backs of political posters from the still young GDR. He had torn them to cover sheets in A4 sized pieces. The posters were the aesthetic expression of the political and cultural self-image, which was supposed to legitimize the self-assertion as an anti-fascist state. A serious reappraisal based on this self-description and self-exoneration from its own Nazi past failed to materialize. Now the posters, which were once a political message and then became cover sheets for the Nuremberg trial files, have taken on a new form. They are now images of a story that was told in the name of actual resistance to National Socialism, but not sufficiently by the people who were really in the resistance.

The instrumentalization of a historiography that has not been reappraised but idealized has concrete effects on the present and the future, as we can see in the example of Ukraine.

Text: Leon Kahane

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On the occasion of the exhibition there was a talk between Leon Kahane and Patrice Poutrus on August 25th, 2022. If you are interested in receiving the viewing link, please email to: rsvp@nagel-draxler.de
Anlässlich der Ausstellung fand am 25. August 2022 ein Gespräch zwischen Leon Kahane und Patrice Poutrus statt. Bei Interesse können wir Ihnen gerne den Viewing Link zukommen lassen: rsvp@nagel-draxler.de