Group Exhibition curated by Julia Eichler  Die Reflexion des Publikums

14/01/2022 – 13/03/2022

Galerie Nagel Draxler
Weydingerstr. 2/4
10178 Berlin

Opening / Eröffnung:
Freitag, 14. Januar 2022, 18 – 21 Uhr
Friday, January 14, 2022, 6 – 9pm

Öffnungszeiten / Opening hours:
Dienstag - Freitag 11 - 18 Uhr, Samstag 12 – 18 Uhr
Tuesday - Friday 11am - 6pm, Saturday 12 – 6pm

2G Regel: Einlass nur mit Nachweis Impfung oder Genesung / 2G rule: Admission only with proof of vaccination or recovery

Beachten Sie, dass Sie die Galerie nur mit einem medizinischen Mund- /Nasenschutz betreten dürfen. / Please note that you may enter the gallery only with a medical mouth/nose protection.

Press Release

Die Reflexion des Publikums
curated by Julia Eichler

mit / with:
Bernadette Corporation
Chella Man
Children of the Discordance
Teboho Edkins
Julia Eichler & Fabian Ginsberg
SdA
Seyoung Yoon

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Teboho Edkins’ filmisches Werk "I am Sheriff" (2017) zeigt die Verwendung eines Films im Film. Edkins unterstützt den Protagonisten, der sich selbst "Sheriff" nennt, durch ein filmisches Porträt dabei, seine nicht binäre Geschlechtsidentität vor der Dorfgemeinschaft und in öffentlichen Schulen zu erklären. Auf diese Weise wirkt die Hauptfigur durch das eigene Beispiel aufklärend auf ihre Gemeinschaft ein. Die Verhandlung und das Vorführen des Films werden wiederum von Edkins gefilmt. Sichtbar wird der sensible Umgang zwischen einem Vortragenden und einem Publikum, deren jeweilige Vorstellungen sich zunächst fremd sind. Die Einladung zum Gespräch ist keine einseitige; beide Seiten sind zum Sprechen aufgefordert. Der filmisch reflektierte Prozess zeigt nicht die Überzeugung eines Publikums als Einheit, sondern das Interesse für den jeweils Anderen innerhalb einer vielstimmigen Gruppe und die so ermöglichte Erweiterung des je eigenen Vorstellungskomplexes.

"Die Kinder im Park 2021" (2022) von Julia Eichler und Fabian Ginsberg folgt den Jugendlichen, die auf Grund geschlossener öffentlicher Räume im Sommer 2021 nomadisch nach Möglichkeiten suchen, sich zu versammeln und zu feiern. Die Kinder treffen sich in Berliner Parks und werden dort von der Polizei regelmäßig weggeschickt. In Interviews versuchen Eichler/Ginsberg zu verstehen, wie die Jugendlichen unter dem Druck der Maßnahmen im zweiten Corona-Jahr eine Form finden, einander zu treffen und Erfahrungen zu machen. Der Film geht von der Annahme aus, dass zur Entwicklung jedes Einzelnen notwendig der kommunikative Austausch (und auch Konflikt) mit einer heterogenen Gruppe Gleicher gehört, dass also das Bedürfnis der Jugendlichen kein hedonistisches, sondern eines der Form- und Identitätssuche ist. Sie werden einander Publikum, also Form, die dann individuell reflektiert werden kann. In ihren Antworten auf die Interviewfragen zeigen die Kinder eine differenzierte Sicht auf sich selbst und die aktuelle Situation, auf ihre Repräsentation in den Medien und auf ihre Wünsche und Hoffnungen.

Chella Man’s Vlogging Beitrag "I’m glad I met you at this age" (2018) gibt einen Einblick in die Gefühlswelt seiner Beziehung mit MaryV zu dem Zeitpunkt, als beide 19 Jahre alt sind. Die inszenierte Situation wird durchbrochen von echten Gefühlsausbrüchen, die in ihrer Intensität und Direktheit nicht nur jugendlich anmuten, sondern diesen Zustand, immer wieder nach Authentizität und Wahrheit suchend, zu formulieren versuchen. Chella Man arbeitet als Youtuber, Blogger, Schauspieler, Model und LGBTQ-Aktivist.

Seyoung Yoon’s Arbeiten aus der Bildserie "Prosumer Prosciutto" (2021) sind mit dem Schriftzug ihrer Foundation Cindy dePerky gezeichnet. Ein Prosumer ist zugleich Produzent und Konsument. Im Blogging, Vlogging und in anderen Social-Media- oder Konsum-Bereichen trägt der Prosumer als aktiv vernetztes Wesen zur Schärfung eines Stils in dem Sinn bei, dass er als Konsumierender das zu Konsumierende weiterentwickelt. Der Nutzer, durch seine Nutzung Produzent, wird nicht entlohnt, sondern zahlt, während er gleichzeitig als Laie die Möglichkeit hat, bei entsprechendem Durchsetzungsvermögen die eigentlich professionell Ausgebildete zu ersetzen. Prosciutto steht dagegen hier für exklusiven, kulturell bedeutsamen oder traditionellen Genuss, man könnte auch sagen: Gütesiegel oder Markenzeichen einer Kennerschaft des gehobenen Geschmacks.

In der Mode wird durch das Spiel mit den vorhandenen Codes ein intuitives Arsenal an neuen Verknüpfungen versammelt, die in ihrem sinnlichen Ausdruck präzise sind, wo die Sprache noch versucht, etwas zu fassen. Ein Trend ist nicht richtig oder falsch; die Manifestation eines Trends ist eine unerklärliche Attraktivität. Im Nachhinein kann es sein, dass sich die vollständige Begründung nicht mehr erschließt, da das, was in der Luft lag, verschwunden ist.

Das Campaign Video der Sommersaison 2022: "Progress" von Children of the Discordance läuft im Eingang der Galerie. KING OF SWAG repräsentieren die "Kinder der Unstimmigkeit", sie tanzen im Steinbruch zu Zacari’s Song "Don’t Trip". Hideaki Shikama verfolgt in seiner Modelinie das Modell des Patchwork - Anleihen aus Secondhand-Ästhetik und Grunge kleiden junge Männer, deren Blick im Lookbook beides zu erfassen scheint: Leere, Trotz, und den unbedingten Willen, sich durchzusetzen. Bleibt die spannende Frage: Mit was? Choreografiertes Gemeinschaftsgefühl trotz Isolation im Angesicht multipler Katastrophen? An welcher Front genau soll man sich formieren? Der Auszug aus der eigenen Psyche könnte da ermöglicht werden, wo es als erstes kracht.

Noch vor kurzem führten Kollektive wie Bernadette Corporation das Feld der modischen Vorbilder an. Das Ausgeliefertsein einer ganzen Generation an den Konsum übersetzten sie in ein Repertoire aus propagierter Leere, gepflegtem Abhängen, Hinter-kryptischen-Nachrichten-unzuverlässig-sein, Gebrauchsanweisungen für Corporate Identities und die erstaunte Ridikülisierung von Protesten. In der Luft war damals noch ein Bewusstsein, dass das eigene Handeln außerhalb der Einreihung in Abschöpfungsprozesse irgendwie nicht wirkte. Deshalb rückte man Trotz, Kühle und ein unverbindliches Egal-Gefühl auf den Laufsteg. Die Stimmung der Kids der 1990er mit den heute Jugendlichen zu vergleichen könnte die Sicht schärfen – nicht nur in eine Richtung.

SdA ist eine thematisch gefasste, in wechselnder personeller Besetzung seit 2018 bestehende Serie von Vorträgen, Ausstellungen und Publika, die sich mit Kunst aus der Sicht ihrer kritischen Infrastruktur befasst. Der Name SdA – Strategien der Aufstandsbekämpfung – bezeichnet eine aus der Militärtheorie (u.a. David Galula) in die Arbeit der Geheimdienste diffundierte Theorie und Praxis, seine kritische Aneignung verortet "Kunst" in politisch-ökonomischen Dimensionen. In der Ausstellung ist ein Plakat zu sehen, das die notorischen Open-Calls der Kunstwelt mit den regelmäßigen Challenges der DARPA (Forschungseinrichtung des amerikanischen Militärs) und der NATO verschränkt. Damit wirft SdA ein Licht auf die Möglichkeit der Top-Down-Beeinflussung selbstorganisierender Prozesse. Das Plakat ist für 5€ erhältlich.

Die Ausstellung "Die Reflexion des Publikums" entwirft Selbstreflexion nicht als eine von anderen abgeschiedene Tätigkeit einzelner Individuen, sondern als einen Austausch unterschiedlicher Menschen, die dadurch Publikum werden – die Form des Publikums reflektiert und ist Gegenstand von Reflexion. Durch die Konstitution eines Publikums wird sich die Einzelne bewusst über ihre Zugehörigkeit und Unterschiedlichkeit. Es ist das Bewusstsein einer Verhältnisform. Der Austausch zwischen der Identität der Einzelnen und der Form des Kollektivs bleibt dabei ein sensibles, irritierbares, sich dauernd veränderndes, anpassungsfähiges, selbstorganisierendes System der Vermittlungen. Medien dieser Vermittlung der Einzelnen und der Gruppe sind unterschiedlich organisiert: als ein Film oder eine Ausstellung, die gemacht und angeschaut werden, ein gesellschaftliches System wie zum Beispiel Kunst oder Mode, digitale Plattformen und Formate, Feste, Feiern im Park oder eine Dorfversammlung. Diese Medien durchdringen und verketten sich und produzieren ein Netz reflexiver Möglichkeiten lebendiger Formfindung.

Text: Julia Eichler

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Teboho Edkins' cinematic work "I am Sheriff" (2017) demonstrates the use of a film within a film. Through a cinematic portrait, Edkins assists the protagonist, who calls himself "Sheriff," in explaining his non-binary gender identity to the village community and in public schools. In this way, the main character plays an educative role towards their community through their own example. The negotiation and screening of the film are again filmed by Edkins. What becomes visible is the sensitive interaction between a lecturer and an audience whose respective ideas are initially foreign to each other. The invitation to talk is not an one-sided one; both sides are invited to speak. The cinematically reflected process does not show the conviction of an audience as a unit, but the interest for the respective other within a multi-voiced group and the thus enabled expansion of one’s own complex of ideas.

"Die Kinder im Park 2021" (2022) by Julia Eichler and Fabian Ginsberg follows young people as they nomadically search for opportunities to gather and celebrate due to closed public spaces in the summer of 2021. The kids meet up in Berlin parks, where they are regularly turned away by the police. In interviews, Eichler/Ginsberg try to understand how the young people find a form to hang out with each other under the pressure of the measures in the second year of the pandemic. The film starts from the assumption that the development of each individual necessarily involves communicative exchange (and also conflict) with a heterogeneous group of equals, that is, that the young people's need is not a hedonistic one, but one of seeking form and identity. They become each other's audience, that is, form, which can then be reflected upon individually. In their answers to the interview questions, the children show a differentiated view of themselves and the current situation, of their representation in the media and of their hopes and wishes.

Chella Man's vlogging post "I'm glad I met you at this age" (2018) gives an insight into the emotional world of his relationship with MaryV at the time when they are both 19 years old. The staged situation is interspersed with genuine emotional outbursts, which not only seem youthful in their intensity and directness, but also attempt to formulate this state of searching for authenticity and truth. Chella Man works as a Youtuber, blogger, actor, model, and LGBTQ activist.

Seyoung Yoon's works from the image series "Prosumer Prosciutto" (2021) are signed with the lettering of her Foundation CdP (Cindy de Perky). A prosumer is both a producer and a consumer. In blogging, vlogging, and other social media or consumer fields, the prosumer, as an actively networked being, contributes to the sharpening of a style in the sense that, as a consumer, he or she develops what is to be consumed. The user, a producer through his use, is not remunerated but pays, while at the same time, as a layman, he has the opportunity to replace those who are actually professionally trained if he is assertive enough. Prosciutto, on the other hand, stands here for exclusive, culturally significant or traditional enjoyment, one could also say: a trademark of a connoisseurship of elevated taste.

In fashion, playing with existing codes gathers an intuitive arsenal of new links that are precise in their sensual expression where language is still trying to grasp something. A trend is not right or wrong; the manifestation of a trend is marked by an inexplicable desirability. In retrospect, the attraction may no longer be apparent because the current has changed.

The Campaign Video of the 2022 Summer Season: "Progress" by Children of the Discordance is playing in the gallery entrance. KING OF SWAG represent the "Children of the Discordance," dancing in the quarry to Zacari's song "Don't Trip." Hideaki Shikama follows the model of patchwork in his fashion line - borrowings from second-hand aesthetics and grunge dress young men, whose look in the lookbook seems to capture both: emptiness, defiance, and the unconditional will to assert oneself. The question remains: How? A choreographed sense of community despite isolation in the face of multiple catastrophes? On which front exactly should one form oneself? The exodus from one's own psyche could be made possible where it first cracks.

Not long ago, collectives like Bernadette Corporation led the field of fashionable role models. They translated an entire generation's being at the mercy of consumption into a repertoire of propagated emptiness, cultivated hanging out, being-unreliable-behind-cryptic-messages, instruction manuals for corporate identities, and the astonished ridicule of protests. Present at that time was still an awareness that one's own actions outside of the classification as part of skimming-off procedures somehow did not work. That's why defiance, coolness and a noncommittal feeling of indifference were put on the catwalk. Comparing the mood of the kids of the 1990s with today's young people could sharpen the view - not only in one direction.

SdA is a thematic series of lectures, exhibitions, and publics that has been in existence since 2018, with changing personnel, and that deals with art from the perspective of its critical infrastructure. The name SdA - Strategies of Counterinsurgency - denotes a theory and practice diffused from military theory (David Galula, among others) into the work of intelligence agencies; its critical appropriation situates "art" in political-economic contexts. The exhibition features a poster that intertwines the art world's notorious open calls with the regular challenges of DARPA (the U.S. military's research arm) and NATO. In doing so, SdA sheds light on the possibility of top-down influence on self-organizing processes. The poster is available for 5€.

The exhibition "The Reflection of the Audience" shows self-reflection not as an activity of individuals isolated from others, but as an exchange of people who thereby become audiences - the audience as a form reflects and becomes the object of reflection. Through the constitution of an audience, individuals become aware of their belonging and difference. It is the awareness of a relational form. The exchange between the individual’s identity and the form of the collective remains a sensitive, irritable, constantly changing, adaptable, self-organizing system of mediations. This mediation of the individual and the group is reflected through different media: as a film or an exhibition, a social system such as art or fashion, digital platforms and formats, festivals, celebrations in the park or a village meeting. These media overlap and interlink, producing a web of reflexive possibilities of finding form.

Text: Julia Eichler