Mirjam Thomann  Better Living

27/06/2015 – 08/08/2015

Eröffnung: Freitag, 26. Juni 2015, 19-22 Uhr
Opening: Friday, June 26th, 2015, 7-10 pm

Press Release

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Lieber Koffer,

natürlich ist es seltsam, an dich zu schreiben. Du bist ja ein Koffer. Aber ich mache mir Gedanken über dich, ich habe schon so lange mit dir zu tun. Seitdem ich auszog, ziehe ich dich hinter mir her, habe ich dich neben mir stehen, wartest du auf den nächsten Einsatz oder die Rückkehr. Ich höre dich zu jeder Tageszeit und auch nachts. Und ich beobachte dich, wann immer ich Gelegenheit dazu habe. Mir fällt auf, dass viele Leute dich nicht im Griff haben. Du fällst oft um, wenn du schlecht gepackt wurdest, deine Rollen gehen kaputt, wenn du zu billig warst, oder dein Verschluss klemmt, wenn du zu dick bist. Selbst wenn du reibungslos deine Dienste erledigst, sieht Bewegung mit dir an der Hand oft komisch aus. Als würdest du uns immer schon im Weg stehen, während du uns gleichzeitig nach vorne bringst. Es gibt diese Werbung, da reitet eine Frau auf dir wie auf einem Pferd, spielt dich wie eine Gitarre, hängt dich über die Schulter wie eine Handtasche und umarmt dich wie einen monströsen Freund.

Ich brauche dich. Zwar will man uns weismachen, Mobilität sei ein Spiel, eine geradezu leichtfüßige Angelegenheit, aber wir beide wissen natürlich, dass das nicht stimmt. Manchmal erscheinen mir unsere Bewegungen geradezu choreografiert, wie ein disziplinierter Arbeitsablauf. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt mit dir spontan aus der Rolle gefallen oder aus der Reihe getanzt wäre. Das Ideal von Bewegung ist offenbar anders als das, was wir wirklich erleben. Woran liegt es? Gibt es zu viele Barrieren? Liebt die Mobilität Ambivalenz? Ist sie ein ewiges Zusammenspiel aus Erleichterung und Erschwernis, Gewährleistung und Restriktion, Dynamik und Unterbrechung, Entgrenzung und Eingrenzung? Es fallen einem ja auch spontan viele Orte ein, an denen gar nichts mehr geht, an denen die Bewegung stoppt, z. B. in Wartezonen, Abschiebelagern oder in Grenzgebieten. Und dann gibt es die Projektion auf die potentiellen Objekte, die sich in einem Koffer befinden. In der Presse gab es in letzter Zeit zwei sehr unterschiedliche Beispiele: ein achtjähriger Junge, der über die Grenze von Marokko in die spanische Exklave Ceuta geschmuggelt wurde, und dessen zusammengekauerte Silhouette bei einem Gepäckröntgenscan zum Vorschein kam, und eine Bombe. Letztere stand aber nur als rhetorische Frage auf dem Titelblatt eines Nachrichtenmagazins neben dem Foto eines am Bahnsteig zurückgelassenen Koffers.

Du bist der Nullpunkt, lieber Koffer, der zeitlichen wie symbolischen Ortsveränderung, eines ursprünglichen Augenblicks, nach dem alle Vertrautheit verloren geht und Wechsel und Differenz das Leben zu formen beginnen. Ein Galerist, der für ein Reisemagazin interviewt wurde, gab zu Protokoll: „I’m definitely a different person when I travel. Usually I’m really polite, but the first thing I tell the stewardess is: ‚Please don’t wake me up’. And than another one will come and ask: ‚Don’t you want champagne?’ I’m like ‚No, I don’t want your fucking champagne!’“ – You’d really say „fucking champagne?“ – Yeah, well... (laughs) maybe. I curse a lot, it just comes out. And then the next one will come and ask ‚But what about the biscuits?’ And I’m like ‚Fuck your biscuits!’ Keep your goddam biscuits! I want to sleep! I haven’t slept in three days!’“– Poor transnational professional assholes.

Das bessere Leben ist doch ein olles Versprechen. Ich ziehe mich deswegen gerne in die Welt der Ideen zurück. Ich imaginiere Bewegung von Menschen, Gedanken, Bildern, Gegenständen, Nachrichten, Abfallprodukten und Geld. Das erinnert mich an den paradoxen Zustand, dass man ja auch immer ein Stück weit an dem Ort verbleibt, von dem man ausgegangen ist. Bewegung ist ein Zustand, an dem Individuen an einem Ort anwesend und zugleich abwesend sind, bzw. sich zugleich auch an einem anderen Ort aufhalten. Man hat dann eine Beziehung zu beiden Orten. Aber man sollte auf diesen Zustand nicht zu sehr projizieren, habe ich gelesen, weder Euphorie noch Skandalisierung der Bewegung seien angebracht, es ginge ja viel mehr darum, sie zu verstehen. Ein berühmter Philosoph sieht das ähnlich. Allerdings sagt er auch: „Meine Intensitäten sind ausnahmslos bewegungslos“. Er findet Reisen habe immer etwas von einem falschen Bruch, einem Bruch, der zu billig erkauft sei. Er zitiert Beckett: „Wir sind zwar bescheuert, aber nicht so bescheuert, zu unserem Vergnügen zu reisen“, und fügt unter schallendem Gelächter hinzu, dass die meisten ja reisen würden, um einen Vater zu finden. Und das auch noch zugeben — einen Vater finden! Haha!

Man wünscht sich doch immer, verändert zurückzukommen. Vielleicht reimt sich „global“ deswegen insbesondere auf „legal“, „egal“, „mental“ und natürlich „fatal“. Es macht auf jeden Fall keinen Sinn, dich als Metapher zu verstehen. Weder stehst du für den neuen Anfang, noch das tragische Ende. Deine Narration geht anders: Irgendwas bewegt sich hier permanent und du hast damit zu tun. Du bist eine Sprache und die Dynamik selbst. Du bist das, was in einem Moment der Unterbrechung aus dem gewohnten Rahmen fällt, aus dem Zusammenhang und dem unsichtbaren Netz der Zugehörigkeit. Du bist das Gefühl der Traurigkeit, sadness at leaving, des Abschieds und des Gedächtnisses. Du bist Stoff und Geist. Du bist Poesie: eine Bewegung, ein Prozess, eine Melancholie, die Verheißung, Neues zu lernen, altes Wissen loszuwerden und verbotene Nostalgie. Du bist materielle Realität der Vertreibung, der Flucht, des Exils und der Migration. Du bist die Vergangenheit, die nicht eintauschbar ist, und die Zukunft, die man sich nicht vorstellen kann.

Dabei ist die Welt längst erschlossen, aufbereitet und vermittelt. Ein Klick und wir wissen, wohin die Reise geht. Wir müssen sie dafür nicht mal mehr selbst antreten. Vielleicht ist das der neueste Luxus, das ultimative Privileg: Sesshaftigkeit. Nicht rühren. Nicht mal mehr scheiternd reisen, die ganze Welt vor Augen haben und ohne Bewegung überall sein. So oder so durchqueren wir Raum und Zeit, zirkulieren schneller und sind heute irgendwie nur zufällig mit dir hier.

Bis bald,
Mirjam

Los Angeles, Berlin 2015

Quellen:
– Tom Holert, Mark Terkessidis, „Was bedeutet Mobilität?“, in: Projekt Migration, Ausst.-Kat., Kölnischer Kunstverein, Köln 2006
The Anthology of Women’s Travel Writing, hg. von Shirley Forster, Sara Mills, Manchester 2002
The Travel Almanac, Spring/Summer 2011
– Gilles Deleuze, „Voyages / Reisen“, Videointerview 1996, Abécédaire, DVD 3
– Irit Rogoff, Terra Infirma, London 2000
– James Clifford, „Traveling Cultures“

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Dear Suitcase,

Of course it’s strange writing to you. You’re just a suitcase. But I’m concerned about you—I’ve had to deal with you for so long. Ever since I moved out, I’ve been pulling you behind me, having you stand beside me, you’re waiting for the next employment or the return. I hear you all hours of the day and at night, as well. And I watch you whenever I get the chance. I’ve noticed that many people don’t have a good grip on you. You often topple over if you haven’t been packed well, your wheels break if you’re too cheap, or the zipper jams if you’re too fat. Even when you do your job smoothly, moving around with you in one’s hand often looks strange. As if you were always standing in our way while simultaneously bringing us ahead. There’s this commercial in which a woman rides you like a horse, plays you like a guitar, hangs you over her shoulder like a handbag, and hugs you like a monstrous friend.

I need you. They want to make us believe that mobility is a game, an almost light-footed affair, but of course we both know that isn’t true. At times, our movements appear nothing less than choreographed, like a disciplined workflow. I really can’t remember the last time I spontaneously broke character or stepped out of line with you. The ideal of movement is apparently different than what we actually experience. Why is that so? Are there too many barriers? Does mobility love ambivalence? Is it an endless interplay of relief and hardship, leeway and restriction, dynamism and interruption, transgression and limitation? Many places spontaneously come to mind where there’s no way forward, where motion comes to a halt—for example, in waiting zones, deportation camps or border regions. And then there’s the projection onto the potential objects in the suitcase. In the press, there were recently two very different examples: an eight-year-old boy smuggled across the border from Morocco to the Spanish exclave of Cueta, whose huddled silhouette appeared in a luggage X-ray scan, and a bomb. But the latter was just a rhetorical question on the front page of a news magazine next to the photo of a suitcase left behind on a station platform.

Dear suitcase, you are the zero point of temporal and symbolic change of location, of an original moment after which all familiarity is lost and change and difference begin shaping life. A gallerist interviewed for a travel magazine went on record as saying: “I’m definitely a different person when I travel. Usually I’m really polite, but the first thing I tell the stewardess is: ‘Please don’t wake me up’. And then another one will come and ask: ‘Don’t you want champagne?’ I’m like ‘No, I don’t want your fucking champagne!’” – You’d really say “fucking champagne?” – Yeah, well... (laughs) maybe. I curse a lot, it just comes out. And then the next one will come and ask ‘But what about the biscuits?’ And I’m like ‘Fuck your biscuits!’ Keep your goddam biscuits! I want to sleep! I haven’t slept in three days!’”– Poor transnational professional assholes.

Better living is just a stale promise. That’s why I like to withdraw to the world of ideas. I imagine the movement of people, thoughts, images, objects, news, waste products, and money. That reminds me of the paradoxical state of always to a certain extent remaining at the place one started off. Movement is a state in which individuals are at once present and absent at a place, or are simultaneously in another place. One then has a relationship to both places. But one shouldn’t project all that much onto this state, I once read, neither being euphoric about movement nor scandalizing it are appropriate—one should instead understand it. A famous philosopher sees it similarly, but he also says: “My intensities are without exception motionless.” In his view, travels always have something of a false break about them, a break that is obtained too cheaply. He cites Beckett: “We're stupid but not to the point that we travel for pleasure,” and adds with a peal of laughter that most people travel to find a father. And they even admit it – to find a father! Haha!

One always wished to come back changed. Maybe that’s why “global” rhymes especially well with “legal”, “mental” and of course “fatal”. At any rate, it doesn’t make sense to grasp you as a metaphor. You stand neither for the new beginning nor for the tragic end. Your narration is different: Something is always permanently in motion here and you have to do with that. You are a language and dynamism itself. You are what is out of the ordinary, out of the context and the invisible net of belonging. You are the feeling of sadness, sadness at leaving, sadness of parting and of memory. You are matter and mind. You are poetry: a movement, a process, a melancholy, the promise of learning something new, of getting rid of old knowledge, and forbidden nostalgia. You are the material reality of displacement, of flight, of exile and migration. You are the past that cannot be exchanged and the future that one cannot imagine.

But the world has long been explored, processed and conveyed. One click and we know where the journey leads to. We don’t even have to take it ourselves anymore. Perhaps that’s the newest luxury, the ultimate privilege: sedentariness. Don’t move. Don’t even travel failingly, have the entire world before your eyes and be everywhere without moving. In one way or the other we traverse space and time, circulate faster, and are today here with you more or less by chance.

See you soon,
Mirjam

Los Angeles, Berlin 2015

Sources:
– Tom Holert, Mark Terkessidis, “Was bedeutet Mobilität?”, in: Projekt Migration, exh. cat., Kölnischer Kunstverein, Cologne 2006
The Anthology of Women’s Travel Writing, ed. by Shirley Forster, Sara Mills, Manchester 2002
– The Travel Almanac, Spring/Summer 2011
– Gilles Deleuze, “Voyages / Reisen”, video interview from 1996, Abécédaire, DVD 3
– Irit Rogoff, Terra Infirma, London 2000
– James Clifford, “Traveling Cultures”
(http://isites.harvard.edu/fs/docs/icb.topic206050.files/Cultural_Theory_and_Cultural_Studies/Clifford_-_Traveling_Cultures.pdf)
Praxen der Unrast. Von der Reiselust zur Mobilität, ed. by Jens Badura et. al., Berlin 2011
– https://www.artbasel.com

Translated by Karl Hoffmann